¬ Tomoko Sauvage
Incantation Bowls [Beschwörungsschalen] ist die Geschichte zweier Mütter, die zufällig einen erfundenen Aberglauben über „Schalen“ [Bowls] teilen. In Zusammenarbeit mit Alexandre Finkelsztajn komponierte die in Paris lebende Sound-Künstlerin Tomoko Sauvage ein kurzes Soundstück, das aus Notizen rund um diese Geschichte besteht, eine Collage, die zwei Stimmen gegenüberstellt: die von Alexandre und seiner Mutter.
„Ich bin fasziniert von den französischen Ausdrücken „avoir du bol“ [Schale haben], was „Glück haben“ bedeutet, und „pas de bol“ [keine Schale]“, „Pech haben“. Als meine Tochter schwer krank wurde, wurde ich abergläubisch und hatte Angst, „keine Schale zu haben“ – Schalen sind meine Musikinstrumente. Ein paar Jahre lang war das Schale-spielen für mich fast eine Art Schutzgeflecht. Eines Tages erzählte ich diese Geschichte einem Philosophiestudenten, der kam, um mich zu interviewen, Alexandre, und er erinnerte sich, dass seine marokkanische jüdische Mutter den Ausdruck genauso interpretiert und ihm eine Schale angeboten hatte, um ihm Glück zu wünschen.“ ¬ TS
Interessanterweise beschreibt das im Französischen verwendete Wort „Schale“ in den Ausdrücken „avoir du bol“ [Glück haben] und „pas de bol“ [Pech haben] nicht eine Schale, wie wir den Begriff heute verwenden. Sein Ursprung liegt vielmehr in einem alten Wort, das „unten“ bedeutet – entweder als sexueller Begriff oder als Ausdruck für das skatologische System. In beiden Fällen gilt man als Glückspilz, „unten zu haben“. Im physischen Kontext ist die untere Körperhälfte auch der Bereich, wo Mütter gebären.
Indem diese Berichte und Gedanken in Form von aufgezeichneten Gesprächen miteinander verwoben werden, reflektiert Tomoko Sauvages Incantation Bowls darüber, wie Überzeugungen geboren und von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden: die Angst einer Mutter um ihre Kinder und Familie, die Seele der Sprache als Verstärkung der Bestrebungen und Sehnsüchte sowie das „déracinement“ – die Entwurzelung – von (Im)Migrant:innen und der Verlust und die Neuerfindung ihrer Bräuche und Rituale.
Bild: Alexandre Finkelsztajn
Incantation Bowls
Soundstück, 2022
mit Alexandre Finkelsztajn
Tomoko Sauvage ist Musikerin und Sound-Künstlerin, die vor allem für ihre langjährigen Experimente mit Instrumenten bekannt ist, welche Wasser, Keramik, Unterwasserverstärkung und Elektronik kombinieren. Ihre Recherche basiert auf Live-Performance-Praktiken, die die unvorhersehbare Dynamik von Materialien umfassen. Unter Einbeziehung ritueller Gesten improvisiert sie spielerisch mit Umgebungen und nutzt den Zufall als Kompositionsmethode. Ihre Performances und Installationen wurden unter anderem bei RIBOCA, V&A Museum, Manifesta, Roskilde Festival, Sharjah Art Foundation, Centre Pompidou Metz und Nyege Nyege Festival gezeigt.
Geboren und aufgewachsen in Yokohama, Japan, zog Sauvage 2003 nach Paris, nachdem sie in New York Jazzklavier studiert hatte. Durch Alice Coltrane und Terry Riley interessierte sie sich für indische Musik und studierte Improvisation hinduistischer Musik. 2006 besuchte sie ein Konzert von Aanayampatti Ganesan, einem Virtuosen von Jalatharangam – dem traditionellen karnatischen Musikinstrument mit wassergefüllten Porzellanschalen. Fasziniert von der Einfachheit seines Geräts und der Klangfülle begann Sauvage sofort, in ihrer Küche mit Essstäbchen auf Porzellanschüsseln zu schlagen. Aus diesem Interesse an Wasser entstand bald die Idee, ein Unterwassermikrofon zu verwenden – so entstand das elektro-aquatische Instrument.
Alexandre Finkelsztajn (*1995, Paris) ist ein in L’Île-Saint-Denis lebender Künstler. Seine Praxis umfasst Poesie, experimentelle Musik und Performances. In seinen Arbeiten experimentiert er mit fiktiven und dokumentarischen Gesten und bestehen aus Sound- und Textmaterialien, die durch Resonanzen, Überlagerungen, Stille und Lärm verunsichert werden. Interessiert an Intimität und dem Überleben alter Überzeugungen, Stimmen und Gesten hinterfragt Finkelsztajn die Grenzen dessen, was geschrieben und gelesen, gehört oder gesagt werden kann.